Der gute Hirte

Das Leitbild des vergangenen Sonntags: Der gute Hirte.
Eine beschauliche Idylle tritt mir vor Augen. Die Wirklichkeit aber sah anders aus: Ihr Alltag im kargen Land Palästinas war hart und rau. Neben die ständige Sorge um Wasser und Weide traten die Gefahren für die Herde: Krankheit, Diebstahl, Raubtiere.
Der gute Hirte. Das Bild hat dennoch einen guten Klang in meinen Ohren. In meinen Kindertagen war mir eines der liebsten Gleichnisse Jesu das von dem kleinen Schaf, das verloren ging und für das der gute Hirte seine anderen 99 zurücklässt, um dieses eine zu suchen. Grenzenloses Gottvertrauen hat diese Geschichte als Kind in mir geweckt.
Kinder können unbekümmert glauben und sich in der Liebe und Fürsorge Gottes bergen. Da ist noch kein Zweifel, keine Frage, kein kritisches Nachdenken, keine schwierige Situation, die den Glauben infrage stellt: Gott ist für mich da. Ich bin meinen Eltern dankbar für diese ersten prägenden Erfahrungen mit einem lieben Gott, die mich mein Leben lang bis heute tragen konnten.
Aber mein Kinderglaube ist dann mit mir auch in die Pubertät gekommen. Pubertät heißt auch: Ich stelle alles infrage, vor allem Traditionen und Autoritäten. Dann kommen auch die Kirche und der Glaube auf den Prüfstand. Was mich und meinen Glauben durch diese Zeit hindurch trug, war die Gemeinschaft der Glaubenden, fühlbar und erlebbar in der Jugendarbeit meiner Kirchengemeinde. Hier fand ich Geborgenheit und Angenommensein.
Der Wandel vom Kinderglauben zu einem erwachsenen Glauben war noch im Gange, als ich mein Theologiestudium begann. Da erlebte ich, wie Glaube und Vernunft zusammenkamen, wie Bibel und Glaube mit wissenschaftlichen, historisch-kritischen Methoden betrachtet wurden. Für viele eine echte Anfechtung, für mich hingegen die Rettung meines Glaubens, weil ich spürte: Ich kann glauben - und dabei ein ganz modern denkender Mensch sein und bleiben.
Ja, der Glaube an den guten Hirten, wie er mir in Kindertagen mit auf den Weg gegeben wurde, hat durchgetragen, trotz aller Wandlungen, die er genommen hat. Es kann aber auch anders kommen. Ich denke an Momente zurück, in denen auch mein Glaube erschüttert wurde. Das erste tote Kind, für das ich eine Trauerfeier zu halten hatte. Was soll ich den Eltern und den Trauernden sagen? Wie kann ich ihnen helfen? Reifungsprozesse meines Glaubens - unter Schmerzen vollzogen, vielleicht auch mit Narben, die auf der Seele zurückbleiben.
Ein Leben ohne Leid gibt es nicht. Und das gilt auch für das Leben eines Christen. Der Glaube an den guten Hirten ist gewiss kein Kinderglaube. Er vermag zu tragen. Sein eindrücklichstes Zeugnis ist der 23. Psalm. Ich bin vielen begegnet, denen gerade dieser Psalm der wichtigste geblieben ist. Obwohl - oder gerade weil - sie viel Schweres in ihrem Leben erleiden mussten. Der gute Hirte ist Christus, der selbst gelitten hat. Er steht nicht unverwundbar über allem, was Menschen erleiden, sondern erleidet es selbst. Er bleibt dabei, gerade wenn es schwer wird. Er geht den Verirrten nach und begibt sich dabei selbst in Todesgefahr. Ja, er steigt sogar hinab ins Reich des Todes, um die Toten zurück ins Leben zu holen.
Ich weiß: Ein Leben ohne Leid gibt es nicht. Und ich glaube: Ein Leben ohne die Erfahrung von Leid ist kein erfülltes Leben. Wer Leiden kennt, kennt auch Lebenslust und Lebenstiefe. Zum Leben in Fülle gehören Freude wie Leid. In allem Leid, das mir nicht erspart bleibt, wünsche ich mir einen Hirten meiner Seele an meiner Seite, einen, der mich in die Tiefe führt, in die Tiefe meines Lebens, meiner Seele. Einen, dem ich grenzenlos vertrauen kann. Einen, der mit mir hinabsteigt in die finstren Täler meines Lebens, und mit dem zusammen ich dann wieder aufsteige ans Licht. Einen, von dem das Lied (EG 209,4) singt: "Sie nennen ihn den Herren Christ, der durch den Tod gegangen ist; er will durch Leid und Freuden mich geleiten. Ich möcht, dass er auch mit mir geht."

Pfarrer Wolfgang Dörrich

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